7 Mayıs 1997

Die Deutschland-Türken - ein Spielball der Politik

Stuttgarter Zeitung, 07.05.1997

Das friedliche Zusammenleben ist in Gefahr / Von Ahmet Arpad

Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist abgekühlt. Aber nicht nur die Beziehungen zwischen den Staaten sind kälter geworden. Jüngst hat beispielsweise der „Spiegel“ vom Scheitern der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland geschrieben. Die „Stuttgarter Zeitung“ hat Ahmet Arpad, einen türkischen Journalisten, gebeten, einmal seine - von der Redaktion der StZ unabhängige - Sicht des gegenseitigen Verhältnisses aufzuschreiben. Arpad, der am Deutschen Gymnasium in Istanbul Abitur machte und Germanistik studierte, lebt seit 25 Jahren in Stuttgart und arbeitet für die linksliberale türkische Tageszeitung „Cumhuriyet“.


Der türkische Döner-Kebab erlebt im Land zwischen Konstanz und Rostock einen unaufhaltsamen Siegeszug. Tag für Tag werden davon 300 Tonnen vertilgt. In 10000 Döner-Buden geben die türkischen Inhaber 45000 Menschen Arbeit und setzen jährlich 4,3 Milliarden Mark um. Der türkische Fleischspieß hat es geschafft. Er wurde in die deutsche Gesellschaft integriert.

Das gleiche „Schicksal“ ist aber den Türken immer verwehrt geblieben. Die Integration der Deutschland-Türken hat nie stattgefunden. Sie hat nie eine Chance bekommen. Solange es der Wirtschaft gutging, lebte man friedlich nebeneinander, manchmal sogar miteinander. Heute kann man nicht von einer „gescheiterten Integration“ reden, weil es sie noch nie gab. Keiner hatte sich jemals ernsthaft darum bemüht.

Die über zwei Millionen Türken bestimmen heute wie schon seit Anfang der Sechziger das deutsche Leben mit. Sie sind inzwischen keine Gäste mehr, sondern Mitbürger. 42000 türkische Unternehmer beschäftigen fast 200000 Menschen, investieren jährlich über acht Milliarden Mark und setzen 35 Milliarden Mark um. An deutschen Unis studieren rund 16000 Kinder türkischer Arbeitnehmer.

Allerdings hat das friedliche Zusammenleben von einst zwischenzeitlich tiefe Risse bekommen und ist nun in Gefahr, vollends zusammenzubrechen. Seit dem Ende des deutschen Wirtschaftswunders macht sich ein deutlicher Anstieg der sozialen Konflikte bemerkbar. Es ist kein Zufall, daß in den neunziger Jahren die Zahl beschämender Übergriffe gegen Türken im Westen wie im Osten sprunghaft in die Höhe schnellte. Auch hier haben die verantwortlichen Politiker in Bonn wie in Ankara versagt. Die Luft zwischen den Hauptstädten wurde zeitweise sogar sehr dünn, Probleme häuften sich.

Zuerst kam die Sache mit der PKK. In dieser vom benachbarten Ausland aus operierenden Terrororganisation wollten vor allem Politiker der roten und grünen Farbe und viele unzureichend recherchierende Medienvertreter „Freiheitskämpfer eines unterdrückten Volkes“ sehen. Die Türken Deutschlands erfuhren von diesen Besserwissern, daß es in der Türkei einen „Bürgerkrieg“ und einen „Völkermord an Kurden“ gibt! Diese Herren, die glaubten die Anliegen einer radikalen Gruppierung vertreten zu müssen, waren sich anscheinend nicht bewußt, daß sie in Wirklichkeit den Frieden im eigenen Lande und das Zusammenleben der Türken und Kurden gefährdeten. Es wurde jahrelang ein fehlerhaftes Bild von der Türkei in der deutschen Öffentlichkeit gezeichnet, und die Türken hierzulande waren wieder die Leidtragenden.

Kaum dachte man, auch diese Spannungen wären überstanden, kamen schon die nächsten. Zuerst die arroganten Äußerungen der christlichen Regierungschefs über die Türkei, dann die dummen Worte aus Ankara. Es ging wieder einmal um die EU-Mitgliedschaft, um Kinkels Besuch und um die Brandkatastrophe in Krefeld. Medien beider Länder heizten natürlich den Konflikt wieder kräftig an. Vor allem die türkische Boulevardpresse ging mit großen Lettern auf Leserjagd. Es wurde viel Porzellan zerschlagen und noch mehr Öl ins Feuer geschüttet. Die Deutschland-Türken wurden wieder zum Spielball.

Das Duo Çiller und Erbakan will das Land mit allen erlaubten und unerlaubten Methoden unbedingt in die EU steuern. Çillers Partner und Widersacher in einer Person, der Islamist Erbakan, vertritt interessanterweise dieselbe Meinung wie der Christ Kohl. Beide nämlich wollen die Türkei nicht in der EU sehen und könnten sie eigentlich mit einer gemeinsamen Strategie von Europa fernhalten! Die Türkei ist aber längst in Europa fest „verankert“. Das türkische Volk steht dem Kontinent näher als manch osteuropäischer Staat. Das Land am Bosporus ist, trotz mancher Rückschläge der letzten Jahre, ein stabiler Faktor in einer wichtigen und unruhigen Region. Man sollte auch nicht übersehen, daß 24 Prozent der türkischen Exporte nach Deutschland und 51 Prozent in die EU-Länder gehen.

Die junge türkische Generation - immerhin die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 25 - entwickelt ein Selbstbewußtsein, das für Europa neu ist. Die Hoffnung vieler Türken ruht inzwischen auf der Dynamik dieser jungen Leute. Ob die Türkei mit einer klugen Innen- und Außenpolitik die Europäische Union Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch attraktiv findet?

Derzeit aber erlebt das Land unübersehbare Bemühungen der Islamisten, die sich eine Abkehr der Türkei von Europa zum Ziel gesetzt haben. Ihnen kommt daher jede „türkeifeindliche“ Äußerung sehr entgegen. Auch die derzeitige Türkeipolitik Deutschlands und die steigenden Alltagsprobleme der enttäuschten Türken hier „erfreuen“ die Herren in Ankara.

Nach dem Scheitern der Integration und dem deutlichen Anstieg der sozialen Konflikte ist ein starker Zulauf vieler „Enttäuschter“ zu den fundamentalistisch orientierten Vereinen und Sekten bemerkbar. Diese inzwischen auch vom Bundesverfassungsschutz als extremistisch eingestuften Islamisten nehmen sie mit offenen Armen auf. Da ist der Islam die „rettende“ Ideologie; Tradition, Nationaldenken und Religion sind „Zufluchtsorte“.

Die steigende Zahl der Moscheen, der Gebetsräume (über 2000!) und der Frauen mit Kopftüchern im deutschen Alltag ist erschreckend, aber kein Zufall. Die vielen Zugeständnisse der letzten Jahre können die Regierenden nicht mehr rückgängig machen. Auch die kopftuchtragende mohammedanische Lehrerin vor deutschen Schulkindern ist ein Sieg für die sogenannten Islamisten. Mit großzügigen Spenden werden „die Kämpfer Allahs“, die Fundamentalisten, in der Türkei unterstützt. Gemeinsam wird am Umsturz der türkischen Demokratie, des Laizismus und Kemalismus gearbeitet. Die Grundmauern der Republik wackeln. Die Gründung eines Gottesstaats wird herbeigesehnt. Die Verantwortlichen in Deutschland wollen eine Gefahr durch diese islamistischen Extremisten nicht sehen. Für sie fällt deren Tätigkeit unter Artikel 4, „Religionsfreiheit“! Unverständlich. Oft werden beide Augen zugedrückt, und der radikale Islam unterwandert bei seinem Vormarsch die türkische Gesellschaft in Deutschland langsam, aber sicher.

Beide Seiten sollten alles daran setzen, das friedliche Zusammenleben wieder herzustellen. Allerdings ist nur mit einem erleichterten Einbürgerungsverfahren nicht viel getan. Über zwei Millionen Menschen sind kein „Spielball der Politik“. Man sollte daher nicht davon ausgehen, daß sie für den Erwerb eines Stücks Papier ihre Identität mit abgeben, sogar ihre Mentalität ändern. Andere Auswege sind dringend gefragt. Es gibt sie nämlich.

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